Die ganz große Nullnummer – Das Versagen der Politik beim Koalitionsvertrag
In Verträgen vereinbaren beteiligte Parteien, was sie miteinander tun wollen. Der eine stellt den Arbeitsplatz oder eine Wohnung, der andere seine Arbeitskraft oder bezahlt eine Miete. Verlässlichkeit und Vertragstreue sind elementare Bedingungen aller Verträge.
Unsere Gesellschaft baut darauf auf – von der Hebamme, die rechtzeitig zur Geburt da ist, bis zur Bestattungsvorsorge. Beim Koalitionsvertrag der Ampel, ist es mit der Verlässlichkeit jedoch anders.
Brüssel, am 15. Dezember 2021: Der Vorstand des Europäischen Tierschutzdachverbandes – der Eurogroup for Animals – trat zusammen. Die erste Sitzung nach der Bundestagswahl in Deutschland, dem Land, in dem über 20 % der EU-Bevölkerung lebt. Ein Schwergewicht, wenn es um die Meinungsbildung in Europa geht, und die neue Ampelkoalition hatte gerade erst ihren Koalitionsvertrag unterschrieben.
Die Stimmung bei der Eurogroup konnte nicht optimistischer sein. Im sogenannten „informal Exchange“ berichtete Jürgen Plinz, der Vertreter des Deutschen Tierschutzbundes, über das, was die Tierschützer um Präsident Thomas Schröder in hunderten Stunden Lobbygesprächen zwischen Wahlabend und Koalitionsvertrag in diesen hatten hinein platzieren können. Ganze 19 Punkte zum Tierschutz sollten in den vier Regierungsjahren umgesetzt werden. Ein starkes Signal für ganz Europa!
Konkrete Verbesserungen vor Augen
Das zentrale Tierschutzversprechen der Ampelkoalition darin, ist die Neuformulierung eines Tierschutzgesetzes. Eine große Chance, den Schutz der Tiere wirklich erheblich zu verbessern, denn heute ist das Tierschutzrecht eher ein „Regeln des Nutzens von Tieren“. Zur Novellierung gibt es erste Schritte, doch die Signale aus der Politik warnen. Zu sehr wünscht sich die FDP keine Verbesserung zum Nachteil von Landwirtschaft oder Jägern. Es scheint, dass die Liberalen sich möglichst keine Einschränkungen des Menschen, zumal wenn sie Geld kosten, wünschen.
Neben der Vereinbarung, ein neues Tierschutzgesetz zu erarbeiten, beinhaltet der Koalitionsvertrag weitere Hoffnungen für den Tierschutz, die bislang unerfüllt, ja nicht einmal angegangen sind. So sollen bestehende Lücken in der Nutztierhaltungsverordnung geschlossen und die Kriterien für Qualzucht konkretisiert werden. Denn Qualzucht ist auch ein Thema für die Tiere in der Landwirtschaft. Nicht-kurative Eingriffe werden deutlich reduziert und die Anbindehaltung wird in spätestens zehn Jahren beendet, heißt es im Vertrag.
Lebendtiertransporte in Drittstaaten sollen künftig an nachgewiesene tierschutzgerechte Versorgungseinrichtungen gebunden sein. Auch wenn Tierschützer ein generelles Verbot fordern, wäre dies ein erster Schritt. Der Vertrag verspricht den Tieren und den Wählern, das Rechts- und Vollzugslücken im Bereich des Tierschutzes geschlossen und Teile des Tierschutzrechts in das Strafrecht überführt sowie das maximale Strafmaß erhöht werden sollen.
Außerdem soll der Onlinehandel mit Heimtieren durch eine verpflichtende Identitätsüberprüfung reguliert und die Kennzeichnung sowie Registrierung von Hunden obligatorisch werden.
Die Regierung will die Leitlinien für Tierbörsen aktualisieren und eine Positivliste für Wildtiere erarbeiten, die nach einer Übergangsfrist noch in Zirkussen gehalten werden dürfen. Herausragend in der Koalitionsvereinbarung ist es, eine Reduktionsstrategie zu Tierversuchen vorzulegen.
Ernüchterung zur Halbzeit
Aus all den Vereinbarungen des Koalitionsvertrags hat es bis zum Herbst 2023, der Halbzeit der Legislaturperiode, allein die Ernennung einer Tierschutzbeauftragten bis über die Ziellinie geschafft. Aber schon die vereinbarte Verbrauchsstiftung, mit der die Tierheime unterstützt werden sollen, wird es auch 2024 nicht geben. Denn erneut wurden keinerlei Mittel dafür vom zuständigen Bundesminister Cem Özdemir in den Haushalt 2024 eingestellt. Was das für das finanzielle Überleben zahlreicher kleinerer und mittlerer Tierheime bedeutet, ist noch nicht abzusehen. Emotional fühlen sich die Tierschützer vor Ort, die 24/7 einen unverzichtbaren Dienst für die Tiere und die Gesellschaft leisten, im Stich gelassen.
Cem Özemdir ist es auch gewesen, der eine verbindliche Tierhaltungskennzeichnung, aber zunächst leider nur für Schweine, einführte. Leider nur ein Versuch der Vertragserfüllung. Sie ist so schmal angelegt, dass sie den Status Quo der Tierhaltung festschreibt und keine Entwicklungsperspektiven bietet. Im Vertrag vereinbart wurden aber auch die Berücksichtigung von Transport und Schlachtung im Tierhaltungskennzeichen, damit es auch eine echte Orientierung bietet. Dazu sollte auch eine umfassende Herkunftskennzeichnung eingeführt werden. Umgesetzt ist davon bislang nichts und wird es wohl auch mit Cem Özdemir nicht mehr.
Vereinbart wurde am 7. Dezember 2021 auch, die Landwirte dabei zu unterstützen, die Nutztierhaltung in Deutschland artgerecht umzubauen. Das braucht viel Geld und auch Verlässlichkeit für die Bauern, deren Existenz davon abhängt. „Die Investitionsförderung wird künftig nach den Haltungskriterien ausgerichtet und in der Regel nur nach den oberen Stufen gewährt“, heißt es im Vertrag. Nur gibt es weder eine echte Förderung noch Haltungskriterien mit „oberen“ Stufen. Von einer effektiven Unterstützung der Landwirte ist zwei Jahre nach Regierungsstart weit und breit nichts zu sehen.
Der Verbraucher muss und soll, wenn es nach der Koalition in Berlin geht, den Umbau der Landwirtschaft bezahlen. Denn im Koalitionsvertrag heißt es dazu: „Dafür streben wir an, ein durch Marktteilnehmer getragenes finanzielles System zu entwickeln, mit dessen Einnahmen zweckgebunden die laufenden Kosten landwirtschaftlicher Betriebe ausgeglichen und Investitionen gefördert werden, ohne den Handel bürokratisch zu belasten.“ Ein guter Ansatz, wenn der Verbraucher seinen Konsum auch wirklich an der Kasse bezahlt und nicht über Steuern künstlich klein gehaltene Preise erlebt. Doch in Zeiten der allgemeinen Kostensteigerung, wird auch dieser Systemwechsel wahrscheinlich nicht mehr vor den Wahlen eingeläutet werden.
Vertragstreue keine Tugend?
Sicher, wenn Vertragsparteien erkennen, dass man eine Vereinbarung ganz oder teilweise nicht erfüllen kann oder möchte, können sie den Vertrag aufheben. So auch beim Koalitionsvertrag. Aber wollen alle Parteien die fehlenden siebzehneinhalb Vereinbarungen oder Versprechungen für die Gesellschaft zum Tierschutz nicht erfüllen? Die Basis der Grünen würde sicher schon, die Führung der FDP wohl eher nicht. Tierschutz ist nicht ganz so bedeutend, scheinen sich die Minister Habeck und Baerbock zu denken. Der größte Vertragspartner SPD schaut zu und versucht, seinen Vorteil daraus zu ziehen.
Dabei vergessen die drei Parteien, dass ein Koalitionsvertrag aus dem Wählerauftrag entsteht. Ein Auftrag, der für den Tierschutz bislang nicht erledigt wurde. Das Bild für die Bevölkerung ist verheerend, wenn Kanzler, Minister und Co. es bei der Vertragstreue nicht so genau nehmen.